Für Fachkräfte
Agisra e.V. ist eine Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen* und geflüchtete Mädchen* und Frauen*. Wir verstehen Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession, das bedeutet, dass wir die individuellen Erfahrungen der Mädchen* und Frauen* in den gesellschaftlichen Kontext einbetten, politisch und öffentlich artikulierbar machen und die Menschenrechtsverletzungen benennen.
Zwangsverheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung!
Unser Ansatz zielt auf die Herbeiführung von Veränderung für all die Mädchen* und Frauen*, die nicht den Weg zu uns finden. Dafür braucht es eine berufliche Identität bei der sich Fachkräfte als gesellschaftsverändernde Akteur*innen verstehen und im Sinne der Benennung, Bekämpfung und Beseitigung dieser gesellschaftlichen Missstände und Ungerechtigkeiten, agieren. Um diesen Anspruch gerecht zu werden leistet agisra Lobby-, Informations- und Bildungsarbeit auf Landes-, Bundes- und Europaebene.
Ein weiterer Schwerpunkt unsere Arbeit ist die psychosoziale Beratung, Begleitung und Unterstützung von Migrantinnen* und geflüchteten Mädchen* und Frauen* – unabhängig von Herkunft, Religion, Alter, sexueller Orientierung, Sprachkenntnissen und Aufenthaltsstatus – die sich in Gewaltverhältnissen befinden und von Sexismus, Rassismus und anderen Unterdrückungsformen betroffen sind.
Im Vordergrund der Tätigkeiten von agisra steht das Empowerment der Mädchen* und Frauen*. Dabei ist häufig die Rechtsunsicherheit, in der sie sich befinden, ausschlaggebend. Denn diese strukturelle Benachteiligung bestimmt den Zugang zu sozialen Leistungen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und Schutzeinrichtungen.
Im Beratungsgespräch gilt es die Hürden zu identifizieren, sie möglichst abzubauen und dabei die Ratsuchenden als Rechteinhaberinnen* zu verstehen, die ein Recht auf eine selbstbestimmte, gut informierte Entscheidung haben. Der Zugang zu mehrsprachigen Informationen unterschiedlicher Thematiken ist dabei essenziell.
agisra ist eine der ersten Beratungsstellen die Zwangsverheiratung bereits in den 90ziger Jahren thematisiert haben. Seit 2011 werden wir als eine von zwei spezialisierten Fachberatungsstellen in NRW, vom Landesministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung finanziert. Wir sind Mitglied im Netzwerk Selbstbestimmungsrechte junger Migrantinnen* sowie der Bundesfachkonferenz gegen Zwangsverheiratung (BUKO).
Neben der Beratung von Bedrohten und Betroffenen von Zwangsverheiratung sowie deren nahestehenden Personen, beraten wir auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit tätig und Personen in Institutionen, Behörden und ähnlichen Einrichtungen.
Schon im Vorfeld einer Zwangsverheiratung werden die betroffenen Mädchen* und Frauen* in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung eingeschränkt. Dabei stehen sie ständig im Konflikt zwischen den patriarchalen Strukturen innerhalb ihrer Familie und den Lebensformen innerhalb der hiesigen Gesellschaft.
Zwangsverheiratung ist ein Bestandteil familiärer Gewalt. Im gesellschaftlich „geschützten“ Bereich der Ehe wird den betroffenen Mädchen und Frauen* das Recht auf persönliche Freiheit abgesprochen, wenn sie zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird, ihre Bildungschancen gemindert und eine freie Wahl der Lebensgestaltung verhindert werden. Betroffen sind vor allem Minderjährige und volljährig junge Frauen*.
Diese befinden sich in einer Konfliktsituation, deren Ursache im „traditionellen“ und „kulturellen“ Hintergrund ihrer Familie liegt – so wird es oftmals benannt und identifiziert durch Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und vielen anderen Personen.
Wir nennen das patriarchale (Familien-)Strukturen, die weltweit existieren und darauf ausgelegt sind, Mädchen* und Frauen* zu unterdrücken und zu erniedrigen. Dazu gehört auch die Kontrolle und Macht über deren Körper und Sexualität. Ziel ist die Durchsetzung der heterosexuellen Ehe als Institution. In einer männerdominierenden Gesellschaft bedeutet dies, dass der Mann über die Rolle der Geschlechter in einer Gesellschaft bestimmt! Im wörtlichen Sinne meint Patriarchat auch „Herrschaft der Väter“.
Der Vater bestimmt wen die Tochter heiraten soll. Dieser gibt die Herrschaft über sie an den Ehemann weiter, der weiter über sie bestimmt. Als verheiratete Tochter, entscheidet der Vater zudem, ob sie in einer gewaltvollen Ehe verbleiben muss oder sich trennen darf.
Dies hat nichts mit Religion oder „Kultur“ zu tun, sondern mit patriarchalen Strukturen!
Patriarchat und Frauenkämpfe in Deutschland
Patriarchale Strukturen gibt es überall auf der Welt. Dort wo eine gewisse Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vorherrscht, konnten Frauen* für ihre Rechte kämpfen und somit eben diese Strukturen schrittweise aufbrechen. In Deutschland wurde innerhalb der Demokratie und des Rechtsstaates immer wieder für Frauen*rechte gekämpft und die Errungenschaften an folgende Generationen weitergegeben, sodass auch diese davon profitieren konnten.
Die Gesetzgebungen haben sich schrittweise verbessert und Frauen* bekamen mehr Rechte zuerkannt:
- 1977
Verheiratete Frauen müssen in der BRD nicht mehr die Erlaubnis ihres Ehemannes einholen, um zu arbeiten
- 1995
Abtreibungen sind unter bestimmten Voraussetzungen straffrei möglich
- 1997
- 1998
Nach einer Entjungferung muss in der BRD ein Mann die Frau nicht mehr heiraten oder Strafe zahlen, das sogenannte Kranzgeld (in der DDR 1957)
- 2002
Das Gewaltschutzgesetz hat häusliche Gewalt von einer Privatangelegenheit zu einem Belang von öffentlichem Interesse gemacht
- 2007
- 2011
- 2016
- 2017
- 2018
Istanbul Konvention wurde ratifiziert
Die Konvention ist ein Menschenrechtsabkommen des Europarates zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* und seit Februar 2018 in Deutschland geltendes Recht, jedoch hier immer noch mit Vorbehalten in Bezug auf die Rechte von Migrantinnen*, obwohl die Staaten verpflichtet sind den Schutz allen Mädchen* und Frauen* zugänglich zu machen. Jede Unterscheidung nach Migrantinnen*- oder Flüchtlingsstatus wird dabei ausdrücklich untersagt. Deutschlands Vorbehalt markiert hier eine Hierarchisierung von Schutz und der Aberkennung auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Mädchen* und Frauen* mit Migrations- oder Fluchtgeschichte sind zudem Rassismus und weiteren Diskriminierungsformen (Mehrfachdiskriminierung) ausgesetzt, z.B. aufgrund ihrer Herkunft, ihres sozioökonomischen Status und ihres Geschlechts. Verstärkt wird dies oft durch einen unklaren Aufenthaltsstatus.
Die fachspezifische Arbeit mit betroffenen / bedrohten Mädchen* und Frauen* umfasst ein erhöhtes Schutzbedürfnis (sicherer Ort – schnelle Aufnahmemöglichkeit – lebensnotwendige Anonymität – Mädchen*gruppen – Anerkennung ihrer Lebenssituation – Gefährdungsanalyse – Familiensysteme etc.) und ein sensibilisiertes, transkulturell besetztes Mitarbeiterinnen*team mit entsprechenden Fachkompetenzen.
* Mit dem Gendersternchen versuchen wir auf das Spannungsfeld der geschlechterdualistischen Zuschreibung aufmerksam zu machen und sie aufzulösen z.B. bei „Frauen*“ alle miteinzuschließen, die sich als Frau definieren, unabhängig von bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht oder von Geschlechtsmerkmalen. Nicht nur „Frauen“ können von heteronormativer Diskriminierung betroffen sein, sondern auch LGBTIQ. Dennoch befinden wir uns in einer Welt/Gesellschaft, in der nach wie vor patriarchale und geschlechterdualistische Vorstellungen den Alltag bestimmen und den Begriff sowie den Kampf um Frauenrechte notwendig machen. Wir bleiben weiterhin in Diskussion darüber.